Blog2019-10-01T21:27:12+02:00

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Vorurteil 1: Der Analytiker deutet!

1. »In der Schrift über Traumdeutung [Oneirocritica] des Artemidoros aus Daldis […] wird nicht nur auf den Trauminhalt, sondern auch auf die Person und die Lebensumstände des Träumers Rücksicht genommen, sodass das nämliche Traumelement für den Reichen, den Verheirateten, den Redner andere Bedeutung hat als für den Armen, den Ledigen und etwa den Kaufmann. [Zusatz 1914:]* Artemidoros aus Daldis [… in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts …] legte […] Wert darauf, die Deutung der Träume auf Beobachtung und Erfahrung zu gründen […]. Das Prinzip seiner Deutungskunst ist […] identisch mit der Magie, das Prinzip der Assoziation. Ein Traumding bedeutet das, woran es erinnert. Wohlverstanden, woran es den Traumdeuter erinnert! Eine nicht zu beherrschende Quelle der Willkür und Unsicherheit ergibt sich dann aus dem Umstand, dass das Traumelement den Deuter an verschiedene Dinge und jeden an etwas anderes erinnern kann. Die Technik, die ich im Folgenden auseinandersetze, weicht von der antiken in dem einen wesentlichen Punkte ab, dass sie dem Träumer selbst die Deutungsarbeit auferlegt. Sie will nicht berücksichtigen, was dem Traumdeuter, sondern was dem Träumer zu dem betreffenden Element des Traumes einfällt.« Sigmund Freud, Die Traumdeutung (1900/1914), Studienausgabe, Bd. 2, S. 119. *Die vierte Auflage der »Traumdeutung« erschien im Juni wenige Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die fünfte 1919 nach dem Krieg. 1913 hatte Freud mit seinem Waffenbruder C.G. Jung gebrochen, der dann auch bezüglich der Traumdeutung einen eigenen Weg ging. — Was gibt es an dieser Stelle zu kommentieren? Sie ist herrlich klar und eindeutig, zugleich aber auch so überraschend, denn sie stellt, was ich über Freuds »Traumdeutung« zu wissen meinte und überall heftig kritisiert fand, die Deutung durch den Therapeuten nämlich, vom Kopf auf die Füße.

2. Aus einer 1909 eingefügten Beschreibung einer Traumdeutung: »Zur [im Traum vorkommenden] Wiederholung des Namens ›Phenyl‹ berichtet [der Patient]: Alle diese Radikale auf -yl haben ihm immer sehr gefallen, sie sind sehr bequem zu gebrauchen: Benzyl, Azetyl usw. Das erklärt nun nichts, aber als ich ihm das Radikal: Schlemihl [jiddisch: Pechvogel] vorschlage [sic], lacht er sehr und erzählt […].« Sigmund Freud, Die Traumdeutung (1900; hier: 1909), Studienausgabe, Bd. 2, S. 376. — Freud schlägt die Assoziation vor, weil der Patient selbst nicht weiterkommt. Erst und nur die Reaktion des Patienten zeugt von der Fruchtbarkeit der von außen kommenden Assoziation.

3. Aus einer 1911 eingefügten Beschreibung einer Traumdeutung: »Die Kranke findet zuerst […]. Der nächste Einfall bezieht sich auf den Satz: […]. Sie macht der Mutter den Vorwurf […] und findet diesen Vorwurf in dem einleitenden Satz des Traumes wieder: […].« Sigmund Freud, Die Traumdeutung (1900; hier: 1911), Studienausgabe, Bd. 2, S. 356f. — Hören wir hier nicht schon, wie Fritz Perls prahlt, er »lasse die Klientin sich bei der Arbeit die Finger selbst schmutzig machen«? (Workshop-Protokoll ca. 1968, dokumentiert in: ders., Was ist Gestalttherapie?, Wuppertal 2003, S. 58.)

4. »Ich vermied es sorgfältig, [der Patientin] die Bedeutung der Symbole zu suggerieren.« Sigmund Freud, Die Traumdeutung (1900; hier: 1914), Studienausgabe, Bd. 2, S. 368.

5. »Symbolübersetzungen« ohne Mitwirkung des Träumenden, also ohne dessen Assoziationen, werden dem Patienten vom Analytiker allenfalls »vorgeschlagen«, sie sind nicht mehr als »wahrscheinlich«. Sigmund Freud, Bemerkungen zur Theorie und Praxis der Traumdeutung (1923), Studienausgabe, Ergänzungsband, S. 260. — Ann Faraday, Autorin eins der populärsten Traum-Bücher der 1970er Jahre (Dream Power, 1972; dt. Die positive Kraft der Träume [1973], Bindlach 1996), deutet – notgedrungen ohne jegliche Mithilfe des Träumers – verwildert drauf los, in Freuds berühmt-berüchtigtem eigenem »Traum von Irmas Injektion«, an welchem Freud die Traumdeutung demonstriert, enthülle sich »möglicherweise nicht nur [der] Gegenwartswunsch nach geschlechtlicher Beziehung mit [seiner Patientin] Irma«, »sondern auf tieferer Ebene auch ein verdrängter infantiler Wunsch, das gleiche mit seiner eigenen Mutter zu tun« (S. 68). Und das, obwohl sie berichtet, selbst unter Deutungen gelitten zu haben, »die lediglich meinen Analytiker befriedigten« (S. 113). Oder befriedigt sie mit der gegenüber Freud übergriffigen Deutung lediglich ihre infantile Rache für diejenige ihres Analytikers?

6. »So erzählt z.B. [Paul-Max] Simon* (1888) einen Traum, in dem er riesenhafte Personen bei Tische sitzen sah und deutlich das furchtbare Geklapper hörte, das ihre aufeinander schlagenden Kiefer beim Kauen erzeugten. Als er erwachte, hörte er den Hufschlag eines vor seinem Fenster vorbeigaloppierenden Pferdes. Wenn hier der Lärm der Pferdehufe gerade Vorstellungen aus dem Erinnerungskreis von Gullivers Reisen, Aufenthalt bei den Riesen von Brobdingnag und bei den tugendhaften Pferdewesen wachgerufen hat – wie ich ohne alle Unterstützung von Seiten des Autors etwa deuten möchte –, sollte die Auswahl dieses für den Reiz so ungewöhnlichen Erinnerungskreises nicht außerdem durch andere Motive erleichtert gewesen sein? [Zusatz 1925:] Die obige Deutung auf eine Reminiszenz aus Gullivers Reisen ist übrigens ein gutes Beispiel dafür, wie eine Deutung nicht [sic] sein soll. Der Traumdeuter soll nicht [sic] seinen eigenen Witz spielen lassen und die Anlehnung an die Einfälle des Träumers hintansetzen.« Sigmund Freud, Die Traumdeutung (1900/1925), Studienausgabe, Bd. 2, S. 55f. *Paul-Max Simon (1837-1889), Begründer der Kunsttherapie. — Die selbstkritische Anmerkung zeigt, dass Freud auch 1925 die von den Assoziationen des Träumers unabhängige Deutung ablehnte. Zudem offenbart sie einen zur Selbstkritik fähigen Freud, der dabei sich ertappen mag, nicht den von ihm aufgestellten Prinzipien treu zu sein. In »Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci« (1910; Studienausgabe, Bd. 10), einem meiner Lieblingstexte Freuds, werde ich auf die Frage zurückkommen, ob bzw. inwiefern eine Deutung ohne Mithilfe des Träumers möglich sei.

Vorweg

1. Dieser Blog begleitet meine umfassende (Re-) Lektüre des ganzen Freud anlässlich des Salon-Jahres 2015 »Wiederkehr des Verdrängten – Psychoanalyse und Gestalttherapie«. Das Interesse am Text: Was sagt er uns heute (noch), wie bringt er uns heute weiter?; es ist kein historisches. Dazu werde ich Widersprüche nicht harmonisieren, sondern produktiv machen. Mit der »Traumdeutung« starte ich.

2. In Freud lese ich kein System hinein, sondern ein Ringen um Erkenntnis heraus. Vielfach gibt Freud zu, dass er die »volle Aufklärung« eines Sachverhaltes »nicht erbringen kann. Mein Material hat mich gerade hierbei im Stich gelassen« (Sigmund Freud, Die Traumdeutung [1900], Studienausgabe, Bd. 2, S. 276); eine »Vermutung erscheint aber noch recht schwer erweislich« (S. 277) oder eine »Anschauung ist nicht allgemein zu erweisen« (S. 528). Ad-hominem-Angriffe auf Freud bleiben unberücksichtigt.

3. Wo es möglich ist, werden Zitate in der »Studienausgabe« (Frankfurt/M. 1975/2000: Fischer-Verlag) nachgewiesen. (Die »Studienausgabe« bringt Freuds Orthografie auf den Stand von 1975, sodass für mich nichts dagegen spricht, nun die neue deutsche Rechtschreibung zu benutzen.) Bei jedem Text ist das Jahr der Erstausgabe oder, bei posthum erschienen Werken, das der wahrscheinlichen Abfassung vermerkt.

4. In der Psychotherapie ist es inzwischen üblich, vom »Klienten« statt wie Freud vom »Patienten« zu sprechen. Das Wort »Patient« entstand im 16. Jahrhundert als Bezeichnung für einen Kranken in ärztlicher Behandlung aus dem lateinischen »patiens«, erduldend, geduldig, leidend (derselbe Stamm wie »Passion«). »Klient« hat allerdings keine glücklichere Etymologie. Das Wort leitet sich, ebenfalls im 16. Jahrhundert, her aus der Bezeichnung für den Auftraggeber eines Rechtsanwaltes. Der lateinische Ursprung lautet »cliens«, zunächst ein zu Dienstleistungen verpflichteter, halbfreier »Hintersasse« einer Familie, die ihn in Not schützt und vor Gericht vertritt; später steht der Begriff für einen ärmeren Bürger, der sich einem Patron anschließt. Im Mittellateinischen bedeutet »clientare«, jemanden zum Abhängigen zu machen.

5. Statt von »Therapie« (entstanden im 18. Jahrhundert, aus altgr. θεραπεία »therapeia«, Dienst, Pflege, Heilung) spricht Freud von »Kur« (16. Jahrhundert, entstanden aus lat. »cura«, Sorge, Fürsorge, Pflege); sehr schön.

6. Ach, übrigens auch das noch vorweg: Eine gendergemainstreamte Sprache mit »Binnen-I« o.ä. lehne ich ab. Poetische, aufklärerische Sprachspiele dagegen sind zu begrüßen. Ich bin »Wortmetz« – eine Berufsbezeichnung, mit der ich Arno Schmidt folge, dem Schriftsteller, der Freuds Theorie in Literatur übersetzt hat – und die Ästhetik des Ausdrucks spielt für mich keine untergeordnete Rolle. »Ein starker und skrupulöser Stil ist eine Methode der Entdeckung. Ein unfreundlicher Kritiker könnte das kommentieren mit ›Du meinst wohl, dass wahr sei, was gut klingt‹. Darauf würde ich in unfreundlichem Ton antworten: ›Ja.‹ Mein Vertrauen in die Umgangssprache und den literarischen Prozess sind sicherlich – als Ursache oder als Wirkung – eng verbunden mit meiner politischen Neigung. Ich bin anarchistisch und agitatorisch und ich bin konservativ und traditionell. So verhält es sich mit guter Sprache« (Paul Goodman, Verteidigung der Dichtung [1971], in: ders., Einmischung, hg. v. Stefan Blankertz, Bergisch Gladbach 2011, S. 148).

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